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04
Blindheit
Ein alter Stein auf dem Boden.



Dieses Säulenkapitell liegt in dem von Herman Prigann ab den 1990er Jahren im Rahmen der IBA Emscherpark gestalteten "Skulpturenwald Rheinelbe" auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Rheinelbe in Gelsenkirchen Ückendorf.

Aus allerlei teils wuchtigen Resten und Relikten des Montanzeitalters im Ruhrgebiet, Beton und Stahl, von hier und dort zusammengetragen, schuf der Land-Art-Künstler Prigann sukzessive bis kurz vor seinem frühen Tod eine Reihe größerer und kleinerer Skulpturen und Raumgestaltungen, teils wild im Gelände verstreut, deren prägnanteste die auf der Haldenkuppe stehende "Himmelsleiter" ist.

Diesen Skulpturenwald erlaufe ich sicher schon seit 15 Jahren. Ich kenne das Gelände und die darin befindliche Kunst "wie meine Westentasche". Einmal habe ich auf Anfrage sogar eine Führung gegeben. Viel meines Wissens stammt dabei von Prigann selbst, der vor Jahren ebenfalls durch "seinen Wald" führte und einiges von der Enstehung der Kunstwerke erzählte.

Das obige Säulenkapitell z.B. hatte er ursprünglich richtig herum auf eine Säulenspitze gesetzt. Rund um die Säule gab es Sitzgelegenheiten. Allerdings hielt das alles nicht lange vor. Über Nacht stürzten Unbekannte die Säule um. Vandalismus (ohne dabei dem alten germanischen Volksstamm zu nahe treten zu wollen) war für Prigann, einen im öffentlichen Raum arbeitenden Künstler, immer ein Thema. Er konnte es von seiner Arbeit nicht trennen und musste bei allem, was er tat, die anonymen Zerstörwütigen im Hinterkopf behalten, ein ewiges "Katz-und-Maus-Spiel". Er nahm es sportlich und gestaltete seine Skulpturen so schwer und so unzerstörbar wie nur möglich. Diese Säule allerdings richtete er nicht wieder auf, es hätte keinen Sinn gehabt. Stattdessen ließ er das Kapitell einfach umgedreht dort liegen. So liegt es bis heute.

Das obige Foto stammt von 2001. Ich habe das Kapitell seitdem ungezählte Male gesehen, auch im Rahmen meiner Führung wies ich darauf hin.

Aber erst heute, als ich mit veicolare dort spazieren ging, machte ich zum ersten Male ein Foto aus der Froschperspektive:




Und da fiel mir plötzlich etwas auf.
Der Stein hat ein Gesicht! Da rechts. Ein bärtiger Wichtel, der wohl einen Kohlenwagen schiebt.
So sieht das von oben aus:





Und auf den anderen Seiten des Steines geht's weiter.
Noch eine Figur und etwas, das an eine Grubenlampe erinnert:






Und hier der dritte im Bunde, moosbebartet und den Stiel einer Schaufel oder etwas ähnlichem haltend:





Und noch einen vierten Wichtel hat es gegeben, der allerdings komplett abgeplatzt ist, nur zwei Beinstummel erinnern an ihn.



Solche Darstellungen romantischer "Bergmanns-Wichtel" waren übrigens im Ruhrgebiet der Gründerjahre, also um 1900 herum, gar nicht selten. Hier mal ein schönes Beispiel einer Stuck-Gestaltung über einem Ladeneingang, ebenfalls in Gelsenkirchen:




Tja, was soll man sagen. Da glaubt man etwas seit vielen Jahren bestens zu kennen, und dann bemerkt man, wie blind man all die Zeit gewesen ist. Oder um den Judas aus den kommenden Gelsenkirchener Passionsspielen zu zitieren: "Die Menschen sind immer blind zu sehen, was wirklich ist, sehen nur, was vor Augen ist."

Augen auf!