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01 14 Die zwei Könige
Zwei Könige spazierten an einem Sonntagmittag gemessenen Schrittes durch ihre kleinen Königreiche. Genau auf der Grenze zwischen den zwei Reichen verlief eine Straße. Es kam dazu, dass beide Könige auf dieser Straße entlang ihrer Grenze schritten, als sie sich plötzlich begegneten und voreinander stehen blieben.
"Macht Platz für den König!" rief der eine. "Macht Platz für den König!" rief der andere. Eine Pause trat ein. Dann rief der erste erneut: "Macht Platz für den König!" Der andere antwortete ihm gleichermaßen: "Macht Platz für den König!" Wieder folgte nur Stille. "Tretet beiseite. Der König will passieren!" rief da der erste. Der andere antwortete: "Ihr sollt beiseite treten. Denn der König will passieren!" Keiner der beiden rührte sich. Nun erhob der zweite erneut die Stimme: "Gebt die Straße frei und lasst den König passieren. Tut Ihr das nicht, werdet Ihr Eure gerechte Strafe erfahren!" Der andere König jedoch rief seinerseits: "Wollt Ihr den König nicht passieren lassen? So sollt Ihr dafür bestraft werden! Zum letzten Male: Gebt die Straße frei!" Die Luft über der breiten Straße flimmerte in der Mittagssonne. Die beiden Könige fingen unter ihren Kronen und Hermelinmänteln zu schwitzen an. "Macht Platz für den König!" rief der eine. "Macht Platz für den König!" rief der andere. Der Nachmittag brach an, und noch immer standen sich die beiden Könige auf der Straße einander gegenüber. Bisweilen rief der eine, bisweilen der andere, doch keiner der beiden bewegte sich. Sie waren immerhin beide Könige. Gegen Abend machte es unter den Untertanen in den zwei Königreichen die Runde, dass die Könige sich auf der Grenzstraße gegenüber standen und einander nicht aus dem Weg gehen wollten. Viele Untertanen gingen hin, um sich das anzusehen. Sie hörten zu, wie die zwei Könige sich fortwährend gegenseitig aufforderten, die Straße freizugeben. "Da ist nichts zu machen" sagte daraufhin einer. "Sie sind beide Könige. Keiner von ihnen darf dem anderen den Vortritt lassen." Während der Nacht blieben manche noch lange am Straßenrand sitzen und hörten den Königen zu, gespannt, ob sich vielleicht doch noch etwas ergeben würde. Doch es ergab sich nichts. Bald gingen auch die letzten der Untertanen zu Bett, und die Könige standen allein unter dem glitzernden Sternenhimmel. "Macht Platz für den König!" rief der eine. "Macht Platz für den König!" rief der andere. Nach einigen Tagen war endgültig klar, dass die Sache sich hinziehen würde. Doch das Land, bzw. beide Länder, mussten ja regiert werden. Da die Könige dafür erst einmal nicht mehr zur Verfügung standen, kamen die Untertanen beider Länder zu einem Treffen zusammen und beschlossen, die Staatsgeschäfte künftig selbst in die Hand zu nehmen. Alle aufkommenden Fragen und wichtige Beschlüsse wurden fortan per Abstimmung entschieden. Auch beschloss man, die Grenze zwischen den beiden Ländern aufzuheben; sie hatte einfach keinen praktischen Nutzen. Die Schlösser der beiden Könige wurden zu Konzertsälen umfunktioniert, da viele der Untertanen gern Musik hörten. Sie nannten sich nun allerdings nicht länger Untertanen, sondern Menschen. Eines Tages – wieviel Zeit inzwischen vergangen war, hatte leider niemand notiert, es müssen jedoch Jahre gewesen sein – waren beide Könige es müde geworden, einander auf der Straße gegenüber zu stehen. Sie schauten sich gegenseitig an und erblickten in den Augen des jeweils anderen plötzlich die Bereitschaft zu einem Kompromiss. "Lasst uns eine Ausnahme machen, Herr Kollege" sagte der eine. "Einverstanden" sagte der andere. "Wie wäre es, wenn wir beide gleichzeitig einen Schritt zur Seite machten und dann langsam aneinander vorbeigingen?" "So müsste es gehen. Jeder von uns geht auf der Seite seines Landes, und jeder schaut den anderen dabei erhobenen Hauptes an." sagte der eine. "Richtig, so können wir einander passieren und tun doch unserer königlichen Würde genüge." antwortete der andere. Beide machten also einen Schritt in Richtung ihres eigenen Landes, gingen langsam, gemessen und mit erhobenen Häuptern seitwärts aneinander vorbei, wobei sie sich nicht aus den Augen ließen, blickten sich noch einen Moment lang an, nickten einmal kurz, drehten sich dann gleichzeitig um und setzten ihren Weg fort. Es war ein wahrhaft königlicher Moment. Als die beiden Könige nun aber die ersten Schritte machten und in ihre Länder schauten, sahen sie – dass diese verschwunden waren. Die Straße, auf der sie gingen, war keine Grenze mehr und das Land, in dem sie sich befanden, war kein Königreich mehr. Einige Menschen, die gerade von der einen Seite in Richtung der anderen gingen, blickten verständnislos auf die beiden altertümlich gekleideten Gestalten. Ein Kind lachte. Da sahen die Könige einander an und erkannten, dass sie das gleiche dachten. Gemeinsam verließen sie die Straße in irgendeiner Richtung und gingen eine Weile querfeldein. Zwischen blühenden Sträuchern fanden sie eine verlassene und verfallene Hütte. Sie flickten das Dach und wohnten fortan in der Hütte. Sie pflanzten Gemüse. Die spitzen Kronen eigneten sich gut zum Umpflügen des Feldes. Sie hielten sich auch Hühner, denn die flatterten immer zuverlässig beiseite, sobald einer der beiden rief: "Macht Platz für den König!"
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