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06
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Rodolphe Bresdin (1822-1885)



Zur selben Zeit wie Meryon spendete ein anderer, durch sein Leben und seinen Charakter nicht minder seltsamer, großer Einzelgänger der Schwarz-weiß-Kunst, seinen gesamten inneren Reichtum: Rodolphe Bresdin.

Wenige Belege gibt es über seinen Werdegang und Ursprung, und die widersprüchlichen Zeugnisse der Literaten, welche sich besonders durch die Schrullenhaftigkeit seiner Persönlichkeit verführen ließen, verdunkeln bloß seine Legende. Seine ersten Versuche gehen auf 1839 zurück; damals zählte er siebzehn Jahre. Mehrere sind nicht größer als eine Briefmarke. Wenn man solchen Geschichten Glauben schenken will, so verhökerte "Chien-Caillou" seine Radierungen für einige Francs an die Trödler. Seine Blätter zog er ab mit Hilfe von Wichse und einer Schuhbürste. In Toulouse, wo er Der gute Samariter lithographierte, bewohnte er 1848 eine Art Käfig voller Vögel, Katzen und Hasen. Wenn er traurig war, beendigte er seine Briefe so: «Ihr Freund, trotz Regen und Wind.»

1869 ist er Pariser, sah zunehmens schwächer aus, so daß man ihn verloren glaubte. Dann blieb er lange verschollen. 1876 sah man ihn eines schönen Tages in einem Cafe landen, beladen mit Paketen, gefolgt von seiner Frau, sechs Kindern und einem Neger. Er hatte seinen Traum verwirklicht, Siedler in Amerika zu werden; aber es gab nur Katzenjammer. Später wurde er zum Unter-Chausseéaufseher beim Arc de l'Etoile ernannt und bewohnte mitten in Paris einen Dachraum, den er zum großen Schrecken der anderen Mieter in einen Baumgarten verwandelte, wo lebendige Quellen sprudelten.

Diese etwas absonderlichen Einzelheiten helfen dazu, sein Werk zu begreifen. Was für Beziehungen immer Bresdin mit Paris verbunden haben, es hat ihn offenbar doch nichts von der modernen Kunst berührt. Er hat, wenigstens in Gedanken, weiter in der Einsamkeit gelebt, in den Einsamkeiten. Die Romane von Fenimore Cooper, wo er seinen Beinamen fand, haben ihm die Illusion verschafft, frei und wild zu sein. Seine strohgedeckten, mit Vogelscharen bevölkerten Hütten, seine Gärten im Brachland, seine Hasen, seine Laubfrösche und Spinnen sind die Schlüssel zu seiner Kunst.

Bresdin wiederholte unaufhörlich, «der wirkliche Künstler dürfe die Natur nicht einmal in Betracht ziehen». Überraschender Vorsatz bei einem Mann, dessen an Narrheit grenzende Geduld sich darin gefiel, die tausend Dächer der fernen Städte, die Grashalme der Wiese, die Zweige des Waldes, die Spalten der Felsen, die Falten des Wassers und des Himmels zu zählen. Unfähig, nach der Natur zu zeichnen, erstellt er unter einem unsicheren Obdach eine Welt, die seine Einbildungskraft eines Besessenen mit marschierenden Legionen, fliehenden Stämmen, Eremiten, Heiligen Familien und allen Tieren der Schöpfung bevölkert.

Wegen der Vertracktheiten läßt ein Teil des Werks an Hieronymus Bosch denken, auch an den Höllen-Brueghel oder die Teufeleien eines Callor. Aber um geheimnisvoll zu sein, braucht Bresdin nichts Barockes und nichts Makabres. Die vertrautesten Formen, der Kampf des Lichtes mit dem Schatten, alles hinterm Schein sich verbergende Unbegreifliche: daraus zieht seine Kunst ihre Schönheit, ihre Größe. Bresdin scheint die Welt durch eine Lupe betrachtet zu haben, und man muß mit der Lupe in der Hand seine dichten Landschaften durchwandern, um da unzählige Entdeckungen zu machen. So viel Winzigkeit würde uns bei Anderen erschöpfen; er aber steht, im Gegensatz zur hassens-werten Rasse der Miniaturmaler, im Dienst des Unendlichen, dem eine Grenze zu setzen er sich solche Mühe gibt. Niemals hat ihn der Aufbau seiner Mikrokosmen die Empfindung für das Ganze verlieren lassen. Man betrachte seine Meisterwerke Der Gute Samariter, Die Heiligen Familien, die Folge der Phantastischen Parade, Die Pfauen, Die Komödie des Todes: eine Welt voll Arbeitsdrang verwandelt sich unter unseren Augen; unerhörte Analogien tauchen zwischen den Herrschaftsbereichen auf; trotz einer Verschwendung an Einzeldingen gibt es keine toten Teilstücke.

Ob er auf Kupfer oder Stein arbeitet, Bresdins Technik bleibt doch die gleiche. Myriaden kleiner Punkte, feiner als das feinste Aquatinta-Korn, übersäen jede Platte. Die Feinheit dieser Gravierarbeit ist derart, daß man begreift, wenn der Künstler seine Augen dabei verbraucht hat. Der Stationsweg des Gros Caillou zieht sich weithin. Bis zum Ende trägt er seinen Stein. Mit sechzig Jahren trösten ihn die nämlichen Halluzinationen, und seine letzte Radierung, wo er alle seine Themen vereinigt hat — Masten, Glockentürme, Schlösser, Strohhütten, Barken, schauernde Gewässer und sich auflösende Wolken — heißt Mein Traum.


Quelle: Claude Roger-Marx, "Europäische Graphik im 19. Jahrhundert"
Edition Aimery Somogy, Paris