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Ein Mann bewohnte eine große Wohnung in einem alten Haus. Sieben Zimmer hatte sie und dazu noch Küche und Bad. Der Mann besaß anfangs nur sehr wenige Möbel: ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl. Die stellte er mal in dem einen und mal in dem anderen Zimmer auf. Er zog sozusagen in seiner eigenen Wohnung fortwährend um, weil er wissen wollte, wie es sich hier und dort anfühlte. Die große Wohnung war ansonsten völlig leer. Beziehungsweise wäre sie so den meisten Menschen erschienen, und so kam sie auch den wenigen und seltenen Gästen vor, die der Mann empfing. Er selbst empfand die Wohnung jedoch ganz und gar nicht als leer, für ihn war sie im Gegenteil – dicht gefüllt.

Bei seinen Umzügen von Zimmer zu Zimmer hatte er mehr und mehr gelernt, den Raum an sich zu spüren, und hatte feine Sinne dafür entwickelt, wie Raum sich hier oder dort anfühlte. Er wusste genau um die Unterschiede des Raumes von Zimmer zu Zimmer, in jedem fühlte der Raum sich anders an. Das hing mit der Größe des Zimmers zusammen, mit der Stellung von Wänden, Fenstern und Türen, wie es klang, wenn man darin sprach, aber auch damit, ob eine Bodendiele einen Sprung hatte oder ein Türrahmen eine Delle. Und auch von der Tageszeit hing es ab und welches Licht in einem Raum war und welche Stimmung er ausstrahlte.

Mit der Zeit lernte der Mann so gut, den Raum zu spüren, dass er jede seiner Erscheinungsformen genau erkennen und benennen konnte. Irgendwann besorgte er sich Stapel von langen Holzbrettern und begann, Regale zu zimmern. Hohe, breite Regale wurden das mit vielen unterschiedlich großen Fächern. Der Mann stellte diese Regale in den Zimmern an die Wände. Immer mehr Regale wurden es, bald war so die ganze Wohnung mit ihnen bestückt. Und alle waren sie leer. Beziehungsweise wären sie so den meisten Menschen erschienen, und so kamen sie auch den wenigen und seltenen Gästen vor, die der Mann empfing. Er selbst empfand das aber gar nicht so, für ihn waren die Regale gut gefüllt, und zwar mit Raum. Sortiert nach Arten, alphabetisch, fein säuberlich.

Er hatte ein ganzes Regal voll Raum mit ein wenig geringerer Dichte und ein weiteres voll Raum mit ein wenig größerer Dichte. Er hatte Abschnitte in den unteren Regalbereichen, in die er schweren Raum hineinzuwerfen pflegte, und Fächer weiter oben, in die er besonders leichten und flüchtigen Raum vorsichtig mit den Fingerspitzen hineinsetzte. Er sammelte wärmeren Raum genauso wie kälteren und unterschied dabei auf's Grad genau. Er hatte mehrere Regalfächer voll Raum eines kleinen Zimmers am frühen Morgen, wenn ein diffuses Licht über den Boden kriecht, und ebenso Fächer mit Raum eines Abends, an dem sich alles etwas kühl und trocken anfühlt. In einem Fach sammelte er Raum, in dem jemand plötzlich bemerkt hatte, dass es um ihn vollkommen still ist, und in einem anderen Raum, in dem gelacht worden war. Er hatte ein großes Regalfach voll Raum, in dem jemand sich beobachtet gefühlt hatte, und ein kleines Fach mit Raum eines alltäglichen Mittages, an dem plötzlich etwas ungewöhnliches geschehen war. Er hatte Raum, in dem tagelang nur eine Spinne anwesend gewesen war, und Raum, in dem die Zeit geringfügig langsamer zu gehen schien. Darüber hinaus besaß er noch Fächer voller Raum der verschiedensten anderen Arten, allesamt lupenrein sortiert nach Beschaffenheit, Stimmung, Klang, Gewicht und Charakter und mit handbeschrifteten kleinen Schildchen versehen.

Seine Sammlung von Raum war die umfangreichste und vielseitigste, die es gab, und hätte zurecht weithin bekannt sein müssen. Jedoch hielt man den Mann im allgemeinen für verrückt. Seine wenigen und seltenen Gäste hatten erzählt, er fülle leere Regale mit Nichts und lebe offenbar in einer Phantasiewelt. Da er dabei aber niemanden störte, ließ man ihn gewähren und kümmerte sich bald nicht mehr um ihn. Der Mann machte sich nur wenig daraus, da er mit der ständigen Pflege und Erweiterung seiner außergewöhnlichen Sammlung stets sehr beschäftigt war.

Eines Nachts drangen Einbrecher in die Wohnung des Mannes ein. In einer so großen Wohnung, dachten sie, müsse doch etwas zu holen sein. Wie wunderten sie sich jedoch, als sie im Schein der Taschenlampen nichts anderes vorfanden, als lauter leere Regale. Vom Boden bis zur Decke reichten sie, und alle ihre Fächer waren vollkommen leer. Nichts, aber auch gar nichts war in der Wohnung zu finden, was in ihren Augen einen Wert gehabt hätte. Vor lauter Ärger darüber stahlen die Diebe dem ruhig schlafenden Mann den Stuhl, der neben seinem Bett gestanden hatte.

Am nächsten Morgen ergänzte der Mann seine Sammlung um ein weiteres Fach: Raum, in dem Einbrecher sich des Nachts furchtbar geärgert haben.