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Die zwei Könige
Zwei Könige spazierten an einem Sonntagmittag gemessenen Schrittes durch ihre kleinen Königreiche. Genau auf der Grenze zwischen den zwei Reichen verlief eine Straße. Es kam dazu, dass beide Könige auf dieser Straße entlang ihrer Grenze schritten, als sie sich plötzlich begegneten und voreinander stehen blieben.

"Macht Platz für den König!" rief der eine.
"Macht Platz für den König!" rief der andere.

Eine Pause trat ein.

Dann rief der erste erneut: "Macht Platz für den König!"
Der andere antwortete ihm gleichermaßen: "Macht Platz für den König!"

Wieder folgte nur Stille.

"Tretet beiseite. Der König will passieren!" rief da der erste.
Der andere antwortete: "Ihr sollt beiseite treten. Denn der König will passieren!"

Keiner der beiden rührte sich.

Nun erhob der zweite erneut die Stimme: "Gebt die Straße frei und lasst den König passieren. Tut Ihr das nicht, werdet Ihr Eure gerechte Strafe erfahren!"
Der andere König jedoch rief seinerseits: "Wollt Ihr den König nicht passieren lassen? So sollt Ihr dafür bestraft werden! Zum letzten Male: Gebt die Straße frei!"

Die Luft über der breiten Straße flimmerte in der Mittagssonne. Die beiden Könige fingen unter ihren Kronen und Hermelinmänteln zu schwitzen an.

"Macht Platz für den König!" rief der eine.
"Macht Platz für den König!" rief der andere.

Der Nachmittag brach an, und noch immer standen sich die beiden Könige auf der Straße einander gegenüber. Bisweilen rief der eine, bisweilen der andere, doch keiner der beiden bewegte sich. Sie waren immerhin beide Könige.

Gegen Abend machte es unter den Untertanen in den zwei Königreichen die Runde, dass die Könige sich auf der Grenzstraße gegenüber standen und einander nicht aus dem Weg gehen wollten. Viele Untertanen gingen hin, um sich das anzusehen. Sie hörten zu, wie die zwei Könige sich fortwährend gegenseitig aufforderten, die Straße freizugeben.
"Da ist nichts zu machen" sagte daraufhin einer. "Sie sind beide Könige. Keiner von ihnen darf dem anderen den Vortritt lassen."

Während der Nacht blieben manche noch lange am Straßenrand sitzen und hörten den Königen zu, gespannt, ob sich vielleicht doch noch etwas ergeben würde. Doch es ergab sich nichts. Bald gingen auch die letzten der Untertanen zu Bett, und die Könige standen allein unter dem glitzernden Sternenhimmel.

"Macht Platz für den König!" rief der eine.
"Macht Platz für den König!" rief der andere.

Nach einigen Tagen war endgültig klar, dass die Sache sich hinziehen würde. Doch das Land, bzw. beide Länder, mussten ja regiert werden. Da die Könige dafür erst einmal nicht mehr zur Verfügung standen, kamen die Untertanen beider Länder zu einem Treffen zusammen und beschlossen, die Staatsgeschäfte künftig selbst in die Hand zu nehmen. Alle aufkommenden Fragen und wichtige Beschlüsse wurden fortan per Abstimmung entschieden. Auch beschloss man, die Grenze zwischen den beiden Ländern aufzuheben; sie hatte einfach keinen praktischen Nutzen. Die Schlösser der beiden Könige wurden zu Konzertsälen umfunktioniert, da viele der Untertanen gern Musik hörten. Sie nannten sich nun allerdings nicht länger Untertanen, sondern Menschen.

Eines Tages – wieviel Zeit inzwischen vergangen war, hatte leider niemand notiert, es müssen jedoch Jahre gewesen sein – waren beide Könige es müde geworden, einander auf der Straße gegenüber zu stehen. Sie schauten sich gegenseitig an und erblickten in den Augen des jeweils anderen plötzlich die Bereitschaft zu einem Kompromiss.

"Lasst uns eine Ausnahme machen, Herr Kollege" sagte der eine.
"Einverstanden" sagte der andere. "Wie wäre es, wenn wir beide gleichzeitig einen Schritt zur Seite machten und dann langsam aneinander vorbeigingen?"
"So müsste es gehen. Jeder von uns geht auf der Seite seines Landes, und jeder schaut den anderen dabei erhobenen Hauptes an." sagte der eine.
"Richtig, so können wir einander passieren und tun doch unserer königlichen Würde genüge." antwortete der andere.
Beide machten also einen Schritt in Richtung ihres eigenen Landes, gingen langsam, gemessen und mit erhobenen Häuptern seitwärts aneinander vorbei, wobei sie sich nicht aus den Augen ließen, blickten sich noch einen Moment lang an, nickten einmal kurz, drehten sich dann gleichzeitig um und setzten ihren Weg fort. Es war ein wahrhaft königlicher Moment.

Als die beiden Könige nun aber die ersten Schritte machten und in ihre Länder schauten, sahen sie – dass diese verschwunden waren. Die Straße, auf der sie gingen, war keine Grenze mehr und das Land, in dem sie sich befanden, war kein Königreich mehr. Einige Menschen, die gerade von der einen Seite in Richtung der anderen gingen, blickten verständnislos auf die beiden altertümlich gekleideten Gestalten. Ein Kind lachte.

Da sahen die Könige einander an und erkannten, dass sie das gleiche dachten. Gemeinsam verließen sie die Straße in irgendeiner Richtung und gingen eine Weile querfeldein. Zwischen blühenden Sträuchern fanden sie eine verlassene und verfallene Hütte. Sie flickten das Dach und wohnten fortan in der Hütte. Sie pflanzten Gemüse. Die spitzen Kronen eigneten sich gut zum Umpflügen des Feldes. Sie hielten sich auch Hühner, denn die flatterten immer zuverlässig beiseite, sobald einer der beiden rief: "Macht Platz für den König!"












 
 
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Ein Mann bewohnte eine große Wohnung in einem alten Haus. Sieben Zimmer hatte sie und dazu noch Küche und Bad. Der Mann besaß anfangs nur sehr wenige Möbel: ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl. Die stellte er mal in dem einen und mal in dem anderen Zimmer auf. Er zog sozusagen in seiner eigenen Wohnung fortwährend um, weil er wissen wollte, wie es sich hier und dort anfühlte. Die große Wohnung war ansonsten völlig leer. Beziehungsweise wäre sie so den meisten Menschen erschienen, und so kam sie auch den wenigen und seltenen Gästen vor, die der Mann empfing. Er selbst empfand die Wohnung jedoch ganz und gar nicht als leer, für ihn war sie im Gegenteil – dicht gefüllt.

Bei seinen Umzügen von Zimmer zu Zimmer hatte er mehr und mehr gelernt, den Raum an sich zu spüren, und hatte feine Sinne dafür entwickelt, wie Raum sich hier oder dort anfühlte. Er wusste genau um die Unterschiede des Raumes von Zimmer zu Zimmer, in jedem fühlte der Raum sich anders an. Das hing mit der Größe des Zimmers zusammen, mit der Stellung von Wänden, Fenstern und Türen, wie es klang, wenn man darin sprach, aber auch damit, ob eine Bodendiele einen Sprung hatte oder ein Türrahmen eine Delle. Und auch von der Tageszeit hing es ab und welches Licht in einem Raum war und welche Stimmung er ausstrahlte.

Mit der Zeit lernte der Mann so gut, den Raum zu spüren, dass er jede seiner Erscheinungsformen genau erkennen und benennen konnte. Irgendwann besorgte er sich Stapel von langen Holzbrettern und begann, Regale zu zimmern. Hohe, breite Regale wurden das mit vielen unterschiedlich großen Fächern. Der Mann stellte diese Regale in den Zimmern an die Wände. Immer mehr Regale wurden es, bald war so die ganze Wohnung mit ihnen bestückt. Und alle waren sie leer. Beziehungsweise wären sie so den meisten Menschen erschienen, und so kamen sie auch den wenigen und seltenen Gästen vor, die der Mann empfing. Er selbst empfand das aber gar nicht so, für ihn waren die Regale gut gefüllt, und zwar mit Raum. Sortiert nach Arten, alphabetisch, fein säuberlich.

Er hatte ein ganzes Regal voll Raum mit ein wenig geringerer Dichte und ein weiteres voll Raum mit ein wenig größerer Dichte. Er hatte Abschnitte in den unteren Regalbereichen, in die er schweren Raum hineinzuwerfen pflegte, und Fächer weiter oben, in die er besonders leichten und flüchtigen Raum vorsichtig mit den Fingerspitzen hineinsetzte. Er sammelte wärmeren Raum genauso wie kälteren und unterschied dabei auf's Grad genau. Er hatte mehrere Regalfächer voll Raum eines kleinen Zimmers am frühen Morgen, wenn ein diffuses Licht über den Boden kriecht, und ebenso Fächer mit Raum eines Abends, an dem sich alles etwas kühl und trocken anfühlt. In einem Fach sammelte er Raum, in dem jemand plötzlich bemerkt hatte, dass es um ihn vollkommen still ist, und in einem anderen Raum, in dem gelacht worden war. Er hatte ein großes Regalfach voll Raum, in dem jemand sich beobachtet gefühlt hatte, und ein kleines Fach mit Raum eines alltäglichen Mittages, an dem plötzlich etwas ungewöhnliches geschehen war. Er hatte Raum, in dem tagelang nur eine Spinne anwesend gewesen war, und Raum, in dem die Zeit geringfügig langsamer zu gehen schien. Darüber hinaus besaß er noch Fächer voller Raum der verschiedensten anderen Arten, allesamt lupenrein sortiert nach Beschaffenheit, Stimmung, Klang, Gewicht und Charakter und mit handbeschrifteten kleinen Schildchen versehen.

Seine Sammlung von Raum war die umfangreichste und vielseitigste, die es gab, und hätte zurecht weithin bekannt sein müssen. Jedoch hielt man den Mann im allgemeinen für verrückt. Seine wenigen und seltenen Gäste hatten erzählt, er fülle leere Regale mit Nichts und lebe offenbar in einer Phantasiewelt. Da er dabei aber niemanden störte, ließ man ihn gewähren und kümmerte sich bald nicht mehr um ihn. Der Mann machte sich nur wenig daraus, da er mit der ständigen Pflege und Erweiterung seiner außergewöhnlichen Sammlung stets sehr beschäftigt war.

Eines Nachts drangen Einbrecher in die Wohnung des Mannes ein. In einer so großen Wohnung, dachten sie, müsse doch etwas zu holen sein. Wie wunderten sie sich jedoch, als sie im Schein der Taschenlampen nichts anderes vorfanden, als lauter leere Regale. Vom Boden bis zur Decke reichten sie, und alle ihre Fächer waren vollkommen leer. Nichts, aber auch gar nichts war in der Wohnung zu finden, was in ihren Augen einen Wert gehabt hätte. Vor lauter Ärger darüber stahlen die Diebe dem ruhig schlafenden Mann den Stuhl, der neben seinem Bett gestanden hatte.

Am nächsten Morgen ergänzte der Mann seine Sammlung um ein weiteres Fach: Raum, in dem Einbrecher sich des Nachts furchtbar geärgert haben.