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07 12 Mir träumte . . .
In unserem Hausflur gibt es ein hölzernes Geländer, das, genau wie das Haus selbst, bereits über 100 Jahre alt ist. Als ein langer, gewundener Geländerstrang zieht es sich vom Erdgeschoss bis hoch unter das Dach.
Mir träumte, das Holz des Geländers habe sich mit der Zeit verzogen und verbogen, sei buckelig geworden und deshalb nicht mehr sicher. Nun hat die Hausverwaltung eine Spezialfirma beauftragt, es wieder zu richten. Mit einigem Aufwand ist das geschehen und mit großer Fachkenntnis; jede Welle des hölzernen Handlaufs ist nun zur Stabilisierung mit millimetergenau abgemessenen Holzstücken unterschoben. Dadurch wird der Handlauf stellenweise so in die Höhe gedrückt, dass man ihn mit der Hand gar nicht mehr erreicht. Wie das Rückgrat eines sich aufbäumenden Lindwurmes schwingt das Geländer sich durchs Haus. Zusätzlich ist das Geländer an der Außenseite auch noch mit dünnen, straff gespannten Stahlseilen gesichert, und auch hier hat man sich Mühe gegeben. Für jede Stelle des Geländers hat man ein Stahlseil in passender Länge angesetzt und auf teilweise hochkomplizierte Art miteinander verbunden, um die Spannungen des Holzes ideal aufzufangen und festzuhalten. Wie eine skurrile vertikale Stahlskulptur zieht das Ganze sich durch den Hausflur. Ich stehe unten am Fuß des Geländer und zupfe an einem der Stahlseile, sofort schwingt es wie eine Harfensaite und erzeugt einen sonoren Ton. Die Schwingung regt auch die benachbarten Seile an, die in unterschiedlichen Tonlagen zu klingen beginnen. Ich drücke den Handballen gegen einige Seile, so lässt der Ton sich modulieren. Da plötzlich weitere Klänge aus der Etage über mir - die Schwingungen haben sich offenbar von selbst dorthin übertragen. Dadurch dass die Schwingungsenergie sowohl kurze als auch längere Seilstücke durchläuft, potentiert sie sich selbst wie von magischer Hand. Plötzlich beginnen Partien zu schwingen, die scheinbar gar nichts miteinander zu tun haben, durch die komplizierte Verspannung aber offenbar doch in Verbindung stehen. Es entsteht eine unvergleichliche, immer weiter am Geländer empor wandernde metallische Musik. Man müsste hier ganze Konzerte geben, denke ich. Es genügt, eine Saite willkürlich anzuschlagen, und schon entwickeln sich langandauernde, völlig unvorhersagbare Klangkaskaden. Wenn nur die Nachbarn sich nicht irgendwann beschweren...
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